Hanna Behrend |
Hanna Behrend, Die Überleberin
Schreiben hat mich ein Leben lang begleitet. Ich habe
Briefe, Tagebücher, Vor- und Nachwörter,
historische und literaturwissenschaftliche, politische
und literaturgeschichtliche Aufsätze, Schul- und
andere Lehrbücher verfasst; in England veröffentlichte
ich sogar eine humoristische Erzählung.
In den letzten vier Jahren habe ich meine Lebenserinnerungen niedergeschrieben.
Da ich viel erlebt und viele verschiedene Dinge gemacht habe, musste ich viel
erzählen, das Buch ist daher ziemlich lang geworden.
Ich habe meine Kindheit in Wien verbracht, meine Jugend in der Emigration in
Frankreich und England, meine unglücklichsten wie meine glücklichsten
Jahre in der DDR; meine politisch aktivste Zeit war in der Wende und in den 1990er
Jahren.
So bin ich Zeitzeugin des Untergangs der österreichischen Republik, des
Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich unter dem NS-Regime; ich habe
in Frankreich 1938, zur Zeit des Münchner Abkommens, sans papiers gelebt.
Den Krieg verbrachte ich in verschiedenen englischen Städten als Haushaltshilfe,
Fabrikarbeiterin, Kindergärtnerin und Sekretärin. 1942 heiratete ich
einen oppositionellen deutschen Kommunisten und folgte ihm Ende 1946 in seine
Heimat nach Ostberlin.
In den ersten 15 Jahre nach meiner Übersiedlung zerbrach meine erste Ehe.
Mein Mann, der
dem antifaschistischen Kampf seine berufliche Entwicklung und seine Gesundheit
geopfert hatte, geriet wegen seiner kritischen Haltung zur Politik der SED ins
Kreuzfeuer politischer Auseinandersetzungen, die mit einem Berufsverbot für
ihn endeten. Während er in die berufliche und politische Isolation gedrängt
wurde, konnte ich an der Vorstudienanstalt mein Abitur ablegen und danach ein
Studium der Geschichte und Anglistik aufnehmen. Nach dem vierten Semester wurde
ich an das Museum für deutsche Geschichte delegiert, konnte mein Diplom
extern ablegen und erhielt die Möglichkeit zu promovieren. Auch die lang
ersehnte Geburt meines Sohnes im März 1955 konnte den traurigen Zerfallsprozess
unserer Ehe nur vorübergehend aufhalten.
1962 wurden wir geschieden. Mein zweiter Mann war Historiker. Ich lernte ihn
in dem Verlag, für den ich von 1958 bis 1962 als Lektorin arbeitete, kennen.
In den ersten Jahrzehnten unserer Liebe half uns die Freude darüber, dass
wir uns gefunden hatten, über alle Schwierigkeiten hinweg. Aber auch in
den Jahren, als unsere Kinder heranwuchsen und jeder in seiner Arbeitswelt voll
beschäftigt war, blieben wir füreinander die intimsten, offenherzigsten,
vertrautesten Gesprächspartner. Als wir nicht mehr erwerbstätig waren,
entstand durch gemeinsame Arbeits- und politische Projekte eine neue Nähe
zwischen uns.
Von 1963 bis 1967 arbeitete ich freiberuflich als Übersetzerin zu Hause,
gab Englischunterricht und versorgte den Sohn und die beiden 1963 und 1964 geborenen
Töchter und den Haushalt. Auch Haustiere haben in meinem und Manfreds Leben
eine wichtige Rolle gespielt.
Von 1967 bis 1969 war ich Englischlehrerin an der Hochschule für Ökonomie
und von 1969 bis 1994 habe ich an der Humboldt-Universität Englische Sprache
und Literatur unterrichtet. Ich habe dort über zwanzig Jahre lang ein Forschungsprojekt
geleitet und zahlreiche StudentInnen bei ihren Graduierungsarbeiten betreut.
Mit einigen bin ich noch heute befreundet.
1982, als ich mit 60 das in der DDR übliche Rentenalter für Frauen
erreichte, war ich auf dem Zenit meiner wissenschaftlichen Erfahrung, Organisiertheit
und Leistungsfähigkeit. Ich konnte mich uneingeschränkt meinen beruflichen
Verpflichtungen widmen, denn meine Kinder waren schon selbstständig.
Seit ich 1978 in den Bereich anglistische Literaturwissenschaft gewechselt und
seit 1979 dort stellvertretende Chefin war, lag der Schwerpunkt meiner Arbeit
in der Forschung zur antifaschistischen und Arbeiterliteratur der 30er Jahre.
Auch meine Lehrveranstaltungen konzentrierten sich thematisch weitgehend auf
diese Periode.
Am 3. September 1981 verteidigte ich meine B-Dissertation, meine Habilitation.
Nach meinem offiziellen Ausscheiden aus meiner Planstelle wurde 1988 zwischen
der Sektionsleitung und mir festgelegt, dass ich weiterhin Diplom- und Promotionsarbeiten
zum Projekt Arbeiter- und feministische Literatur betreuen sollte. Ferner sollte
ich weiterhin zwei Forschungsprojekte leiten. Diesen Absichten bereiteten die
Wende und vor allem der Anschluss ziemlich schnell ein Ende. Es gelang mir zwar,
das Projekt Arbeiter- und feministische/Frauen-Literatur mehr als ein Jahrzehnt,
von 1981 bis 1992/93, an der Humboldt-Universität am Leben zu halten. Jedoch
ließ sich ein Projekt wie das unsere, das koordinierte, langfristige Forschung
zur Voraussetzung hat, bei der alle Graduierungsarbeiten über einen längeren
Zeitraum zu einem vorher geplanten Projekt Beiträge lieferten, nicht erhalten,
als die westdeutsche Praxis in den Geisteswissenschaften eingeführt wurde,
Die Jahre nach der Wende, von 1989 bis 2005 wurden für meinen Mann und mich
zur politisch aktivsten und selbstbestimmtesten Zeit unseres Lebens. Ich gehörte
zu den Gründungsfrauen sowohl des Unabhängigen Frauenverbands wie des
Zentrums für interdisziplinäre Frauenforschung und blieb der ostdeutschen
Frauenbewegung bis zu deren Verebben verbunden.
Ich gab die Schriftenreihe Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft heraus,
in der bis heute 18 Bände erschienen sind; ich war von 1990 bis 2005 ehrenamtliche
Redakteurin in der autonomen Frauenredaktion bei der Zeitschrift Das Argument, von
der Gründung bis 2003 Vorstandsfrau bei INKRIT, dem Institut für kritische
Theorie, das Wolf und Frigga Haug 1991 gegründet hatten und das v. a. das historisch-kritische
Wörterbuch des Marxismus herausgibt. Ich bin seit 1991 im Vorstand
des Gesellschaftswissenschaftlichen Forums, einer von abgewickelten ostdeutschen
GesellschaftswissenschaftlerInnen gegründeten Organisation, die diesen die
Fortführung und Popularisierung ihrer Forschung ermöglichen will. Ich
bin bis heute dem Zentrum für interdisziplinäre Frauenforschung verbunden,
das jetzt Zentrum für transdisziplinäre Genderstudien heißt.
Ich veröffentlichte auch außerhalb der Schriftenreihe, die ich herausgab,
Bücher und Aufsätze im In- und Ausland sowie Rezensionen in diversen
Zeitschriften und Zeitungen, u. a. schrieb ich bis 2000 regelmäßig
für die linke amerikanische Zeitschrift New Politics. Ich hielt
Vorträge in Deutschland und auch auf zahlreichen Tagungen an englischen
Universitäten, die in verschiedenen Sammelbänden veröffentlicht
sind. Ich war eine Zeitlang Mitglied eines Arbeitskreises der Grundsatzkommission
der PDS und Mitgründerin eines Komitees für Gerechtigkeit. Ich übersetze
bis heute gelegentlich für die Zeitschrift sozialistische Hefte aus
dem Englischen.
Seit 1994 leite ich ein Literaturseminar für SeniorInnen unter der Schirmherrschaft
von Pro-Seniores e.V. In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts, von 2001 bis
2003, war ich als Gutachterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung für Anträge
auf Promotionsstipendien tätig.
In den 16 Jahren von 1990 bis 2006 verbanden Manfred und mich viele gemeinsame
politische und publizistische Projekte. Sie haben unseren letzten Ehejahren neuen
Glanz gegeben, uns auf neue Weise wieder enger zueinander geführt. Für
das von mir 1995 herausgegebene Buch German Unification. The Destruction
of an Economy und für die 1997 aktualisierte deutsche Fassung Die
Abwicklung der DDR schrieb Manfred zwei wichtige Kapitel, eines über
die DDR-Bürgerbewegungen und die Parteien, das andere über Neofaschismus
in der DDR. Aber er unterstützte auch meine Herausgeberinnentätigkeit
für beide Fassungen in vielfältigster Weise, u. a. finanziell.
Gemeinsam gründeten wir das „Komitee für Gerechtigkeit" in
Prenzlauer Berg. Ein gemeinsames Projekt war auch das Buch Zeiten der Hoffnung – Zeiten
des Zorns, das ich zu Ehren seines 75. Geburtstages 2005 im verlag am park
veröffentlichte. Damit erschöpfte sich unsere Zusammenarbeit aber nicht:
Er las, kommentierte und korrigierte die wichtigeren meiner Texte; ich druckte
alle seine Texte einschließlich der Korrespondenz aus, half ihm bei den
Tücken des Computers und erledigte Bücherbestellungen, die wir inzwischen
beide meist online tätigten.
Noch wesentlicher waren für unsere Arbeitsgemeinschaft die ständigen
Streitgespräche über Politik im Allgemeinen und die PDS im Besonderen, über
die täglichen Nachrichten, über das, was in den drei Tageszeitungen
und zahlreichen Zeitschriften stand, die wir abonniert hatten, über Bücher,
Filme, über SchauspielerInnen und Theateraufführungen.
So haben wir – sieht man von der Zeit seit dem Sommer 2005 ab, als erst
bei meiner Tochter Susanna ein Lymphom und dann bei Manfred Lungenkrebs festgestellt
wurden – nach der Wende fünfzehn harmonische Jahre miteinander verbracht.
Es macht mich im Rückblick froh, dass wir die Zeit nach der Wende auch dazu
nutzten, Reisen in Länder und an Orte zu unternehmen, die Manfred und manchmal
auch mir bis dahin nicht zugänglich gewesen waren. Auch Haustiere haben
in meinem und Manfreds Leben stets eine wichtige Rolle gespielt. Die Kinder und
Enkel lernten von früh an, sie als Mitgeschöpfe zu respektieren und
nicht als Spielzeug zu behandeln.
Seit ich diese Lebensgeschichte zu schreiben begann, hat sich mein Leben durch
schmerzliche Verluste ein weiteres Mal von Grund auf gewandelt.
Manfred, der Gefährte einer 44 Jahre währenden, sich ständig verändernden
und dabei auf immer neue Weise befriedigenden Lebens- und Arbeitsgemeinschaft,
mein nächster und liebster Mensch, starb am 14. Januar 2006 unerwartet an
einem Herzinfarkt. Schon die zweite Hälfte des Jahres 2005 war von seiner
Krebskrankheit und der meiner jüngeren Tochter Susanna überschattet
gewesen. Susanna ist glücklicherweise heute symptomfrei und kann auch wieder
in ihrem Beruf arbeiten.
Ungeachtet der schweren Schicksalsschläge lebe ich gern. Selbst wenn sich
mein Herz vor Trauer über meinen Verlust zusammenkrampft, weiß ich,
wie gerne ich lebe.
Die ersten kleinen, noch geschlossenen sonnengelben Blüten der Forsythiensträucher
und die weinroten Knospen der japanischen Kirschbäume, die ich von meinem
Balkon aus im Frühling sehen kann, lassen mich jedes Jahr wieder empfinden,
wie schön das Leben ist – und wie kurz. Die hellgrünen Blätter
werden alsbald dunkelgrün und staubig, schnell verblühen die Forsythien.
Die Kirschblütenknospen öffnen sich, fallen zu Boden und verdorren.
Aber sie kommen wieder. Immer wieder, jedes Frühjahr.
Als ich diese Autobiographie zu Ende geschrieben und gelesen hatte, erkannte
ich, dass es in meinem Leben Wünsche, Ziele und Sehnsüchte gab, die
leitmotivisch immer wieder auftauchen.
Der Wunsch nach einer gerechten und heilen Welt hat mich mein Leben lang getrieben – in
Illusionen und in Erkenntnisse. Es ist eine Sehnsucht, die viele Menschen meiner
Generation bewegte und manche noch immer bewegt.
Ich habe mich bemüht darzustellen, wie wir uns diese Sehnsucht immer wieder
zu erfüllen versuchten. Manchmal verloren wir sie aus den Augen und verdrängten
sie fast völlig, aber nie war uns für längere Zeit der Zustand
dieser Welt gleichgültig.
Die Utopie, jene blaue Blume unserer romantischen Träume, vergeblich verfolgt
zu haben, macht uns nicht verächtlich. Ob es den folgenden Generationen
gelingt, ein Weniges von dem Vielen, das bei uns unerledigt blieb, zu bewältigen,
ist offen. Aber gewiss scheint mir, dass es auch in nachfolgenden Generationen
immer wieder Menschen geben wird, die das unerledigt Gebliebene bemerken und
versuchen werden, ein wenig davon zu bewältigen. .
Zum
Buch der Autorin
Das ist Mickymouse, mein einziges Haustier, nachdem
meine Schäferhündin Leila meinen Mann nur
wenige Wochen überlebte. |